09.02.19: Nierenlebendspende : Richtungsweisendes BGH-Urteil zur gesetzlichen Aufklärung

09.02.19: Richtungsweisendes BGH-Urteil zur gesetzlichen Aufklärung bei Nierenlebendspende

BundesgerichtshofDer VI. Senat des Bundesgerichtshofs (BGH) hat am 29.01.2019 in Karlsruhe in zwei Fällen von nicht ordnungsgemäß aufgeklärten Nierenlebendspendern (Aktenzeichen VI ZR 495/16 und VI ZR 318/17) richtungsweisende Urteile gefällt. Der BGH hat in seiner Grundsatzentscheidung die Anwendung der „hypothetischen Einwilligung“ im Zusammenhang mit Organlebendspenden verneint. Somit kann künftig kein fehlerhaft aufklärender Arzt nach der Spende darauf bestehen, dass der Spender bei richtiger Aufklärung ohnehin gespendet hätte.

Die Vorinstanzen hielten den Klägern vor, unter anderem aus Liebe zu dem Organempfänger gespendet zu haben. Sie hätten daher in jedem Fall ihre Niere gespendet. Aber genau diese emotionale Nähe verlangt der Gesetzgeber zwischen Organspender und -empfänger. Der BGH hat die besondere Konfliktsituation des potenziellen Spenders erkannt und führt aus, dass die strengen Vorschriften auch dem „Schutz des Spenders vor sich selbst“ dienen. Das oberste deutsche Zivilgericht stellt also klar, dass man einem beschädigten Spender nicht die Vorgaben des Gesetzgebers zusätzlich noch als „hypothetische Einwilligung“ vorhalten kann.

Im Falle einer nicht lückenlosen Aufklärung würden die strengen Vorgaben des Transplantationsgesetz unterlaufen werden. Dies aber erschüttere das Vertrauen potenzieller Lebendorganspender in die Transplantationsmedizin.

Zum Hintergrund der Verfahren über Aufklärung bei Nierenlebendspende

Wie der BGH in einer Pressemitteilung zum ersten Verfahren VI ZR 495/16 ausführte, spendete die Klägerin ihrem an einer chronischen Niereninsuffizienz auf dem Boden einer Leichtkettenerkrankung leidenden Vater im Februar 2009 eine Niere. Im Mai 2014 kam es zum Transplantatverlust beim Vater. Die Klägerin behauptet, infolge der Organspende an einem chronischen Fatigue-Syndrom und an Niereninsuffizienz zu leiden und macht eine formal wie inhaltlich ungenügende Aufklärung geltend.

Das Landgericht hat die auf Zahlung von Schmerzensgeld und Feststellung der Ersatzpflicht für künftige Schäden gerichtete Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. Zwar hätten die Beklagten, ein Universitätsklinikum und dort tätige Ärzte, gegen verfahrensrechtliche Vorgaben aus § 8 Abs. 2 TPG (2007) verstoßen, weil weder eine ordnungsgemäße Niederschrift über das Aufklärungsgespräch gefertigt noch das Aufklärungsgespräch in Anwesenheit eines neutralen Arztes durchgeführt worden sei.

Doch führe dieser formale Verstoß nicht automatisch zu einer Unwirksamkeit der Einwilligung der Klägerin in die Organentnahme. Eine Haftung der Beklagten folge auch nicht aus der inhaltlich unzureichenden Risikoaufklärung. Denn es greife der von den Beklagten erhobene Einwand der hypothetischen Einwilligung, da die Klägerin nicht plausibel dargelegt habe, dass sie bei ordnungsgemäßer Aufklärung von einer Organspende abgesehen hätte.

Im anderen Verfahren VI ZR 318/17 spendete der Kläger seiner an Niereninsuffizienz leidenden und dialysepflichtigen Ehefrau im August 2010 ebenfalls eine Niere. Der Kläger behauptet ebenfalls, seit der Organentnahme an einem chronischen Fatigue-Syndrom zu leiden. Die Risikoaufklärung sei formal wie inhaltlich unzureichend gewesen.

Das Landgericht hat die auf Ersatz materiellen und immateriellen Schadens gerichtete Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers blieb ohne Erfolg. Etwaige formale Verstöße gegen § 8 Abs. 2 TPG (2007) begründeten keine Haftung. Eine solche folge auch nicht aus der inhaltlich fehlerhaften Risikoaufklärung, da der Kläger selbst bei ordnungsgemäßer Aufklärung in die Organentnahme eingewilligt hätte.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs

Der unter anderem für das Arzthaftungsrecht zuständige VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat die Vorentscheidungen auf die Revisionen der Kläger aufgehoben und die Sachen zur Feststellung des Schadensumfangs an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Zwar seien die Klagen nicht bereits wegen der festgestellten Verstöße gegen die Vorgaben des § 8 Abs. 2 Satz 3 (Anwesenheit eines neutralen Arztes beim Aufklärungsgespräch) und Satz 4 (von den Beteiligten zu unterschreibende Niederschrift über das Aufklärungsgespräch) TPG begründet. Bei den unbeachtet gebliebenen Regelungen handelt es sich (lediglich) um Form- und Verfahrensvorschriften, welche die Pflicht des Arztes zur Selbstbestimmungsaufklärung des Spenders begleiten. Verstöße hiergegen führten nicht per se zur Unwirksamkeit der Einwilligung der Spender in die Organentnahme und zu deren Rechtswidrigkeit, sondern seien erst im Rahmen der Beweiswürdigung als starkes Indiz dafür heranzuziehen, dass eine Aufklärung durch die – insoweit beweisbelastete – Behandlungsseite nicht oder jedenfalls nicht in hinreichender Weise stattgefunden hat.

Keine ordnungsgemäße Aufklärung der Kläger über die gesundheitlichen Folgen der Organentnahme

Die Berechtigung des jeweiligen Klagebegehrens jedenfalls dem Grunde nach folge jedoch aus den festgestellten inhaltlichen Aufklärungsmängeln. „Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts wurden die Kläger, deren eigene Nierenfunktionswerte sich bereits präoperativ im unteren Grenzbereich befanden, nicht ordnungsgemäß über die gesundheitlichen Folgen der Organentnahme für ihre Gesundheit aufgeklärt. Die Klägerin des Verfahrens VI ZR 495/16 hätte zudem über das erhöhte Risiko eines Transplantatverlusts bei ihrem Vater aufgrund von dessen Vorerkrankung aufgeklärt werden müssen. Damit ist die von den Klägern erteilte Einwilligung in die Organentnahme unwirksam und der Eingriff jeweils rechtswidrig“, so das Gericht.

Für den von den Beklagten hiergegen erhobenen Einwand, die Kläger hätten auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung in die Organentnahme eingewilligt, ist entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kein Raum. „Der Einwand der hypothetischen Einwilligung ist im Transplantationsgesetz nicht geregelt. Angesichts des vom Gesetzgeber geschaffenen gesonderten Regelungsregimes des Transplantationsgesetzes lassen sich die zum Arzthaftungsrecht entwickelten Grundsätze der hypothetischen Einwilligung nicht auf die Lebendorganspende übertragen. Der Einwand ist auch nicht nach dem allgemeinen schadensersatzrechtlichen Gedanken des rechtmäßigen Alternativverhaltens beachtlich, weil dies dem Schutzzweck der erhöhten Aufklärungsanforderungen bei Lebendspenden (§ 8 Abs. 2 Satz 1 und 2 TPG) widerspräche“, so der BGH.

„Schutz des Spenders vor sich selbst“

Die vom Gesetzgeber bewusst streng formulierten und in § 19 Abs. 1 Nr. 1 TPG gesondert strafbewehrten Aufklärungsvorgaben sollen den potentiellen Organspender davor schützen, sich selbst einen größeren persönlichen Schaden zuzufügen. Sie dienen dem „Schutz des Spenders vor sich selbst“.

„Jedenfalls bei der Spende eines – wie hier einer Niere – nicht regenerierungsfähigen Organs, die nur für eine besonders nahestehende Person zulässig ist (§ 8 Abs. 1 Satz 2 TPG), befindet sich der Spender in einer besonderen Konfliktsituation, in der jede Risikoinformation für ihn relevant sein kann“ erläuterte der BGH. Die echte Freiwilligkeit der Spende sei zudem vorab durch eine Kommission zu verifizieren (§ 8 Abs. 3 TPG).

„Könnte die Behandlungsseite vor diesem Hintergrund mit dem Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens eine Haftung abwenden, bliebe die rechtswidrige Organentnahme insoweit sanktionslos und würden die gesonderten Aufklärungsanforderungen des Transplantationsgesetzes unterlaufen. Dies erschütterte das notwendige Vertrauen potentieller Lebendorganspender in die Transplantationsmedizin. Denn die Einhaltung der Vorgaben des Transplantationsgesetzes ist unabdingbare Voraussetzung, wenn – um des Lebensschutzes willen – die Bereitschaft der Menschen zur Organspende langfristig gefördert werden soll“, so die BGH-Richter.

Freude und Erleichterung über das Urteil

Interessengemeinschaft Nierenlebendspende e. V.Die Kläger und die Mitglieder der Interessengemeinschaft Nierenlebendspende e. V. (IGN e. V.) haben dieses Urteil mit großer Freude und Erleichterung aufgenommen.

„Es ist der jahrelangen konsequenten öffentlichen Darstellung der tatsächlichen Risiken durch die IGN e. V. und dem öffentlichen Nachweis, dass die Transplantationsmedizin diese trotz Kenntnis verschwiegenen hat, zu verdanken, dass dieses Urteil möglich wurde. Mit diesem Urteil sollte sich die Aufklärungskultur der Transplantationsmedizin in Deutschland nachhaltig verändern“, erklärte der IGN e.V. in einer Pressemitteilung vom 07.03.19

„Dass dies bisher tatsächlich nicht zum ärztlichen Selbstverständnis gehörte, hatte noch am Tag vor der Urteilsverkündung Herr Prof. Bernhard Banas (Universitätsklinikum Regensburg) in seiner Funktion als Präsident der Deutschen Transplantationsgesellschaft (DTG) gegenüber der Westfälischen Rundschau eindrucksvoll bestätigt:

Zitat: Wenn die beiden Recht bekommen, „und wir in den Aufklärungsgesprächen alle eventuellen Risiken abklären müssen, werden Lebendspenden künftig schwieriger bis unmöglich gemacht“, befürchtet DTG-Präsident Banas.“

Herr Prof. Banas ist also der Auffassung, dass man Nierenlebendspendern nicht alle Risiken erklären soll. Diese Aussage offenbart eine inakzeptable ethische Grundhaltung. Ob Herr Banas weiß, was er da gesagt hat?“, so die Interessengemeinschaft Nierenlebendspende.

Gesundheit der Organlebendspender?

Tatsächlich seien bisher nicht alle Transplantationsmediziner ernsthaft um die Gesundheit der Organlebendspender bemüht gewesen. Das bestätigen die Mitglieder der IGN e.V. auf Grund unzähliger persönlichen Erfahrungen. „Allein der Umstand, dass bei jeder einseitigen Nierenentnahme, die Gesamtnierenfunktion um ca. 30 bis 40 % sinkt, wurde bisher beharrlich verschwiegen oder heruntergespielt. Die hieraus folgenden Symptome wie z.B. Leistungsverluste, kognitive Einschränkungen und chronische Müdigkeit wurden mit unangreifbarer ärztlicher Expertise als psychische Folgen der Spendebelastung diagnostiziert. Ohne Hemmungen auch von medizinisch geschulten Gutachtern vor Gericht in Zivil- und Sozialgerichtsprozessen“, erläuterte der Betroffenen-Verein.

Auch das in Studien beschriebene häufig auftretende „Fatigue-Syndrom“ nach Nierenlebendspende, eine sehr schwere neurologisch-immunologische Erkrankung des gesamten Körpers, muss Gegenstand der Aufklärung sein. „Die Transplantationsmedizin rechnete bisher im Bereich der Lebendorganspende die Gesundheit zwischen Spender und Empfänger auf. Aber die Gesundheit des Spenders ist unverhandelbar.“

Im Mittelpunkt stünden künftig die gesunden potenziellen Spender, die erst nach vollständiger Kenntnis über die teilweise gravierenden möglichen Einschränkungen und Konsequenzen des Nierenverlustes eine möglichst freie Entscheidung treffen werden. „Jeder hat das Recht auf körperliche Unversehrtheit und kann „Nein“ zur Spende sagen. Das ist ein großer Wertegewinn für die teilweise einseitige Debattenkultur rund um die Organspende.“

Weitgehendes Schweigen

Die IGN kritisierte, man lese bis dato keine Stellungnahmen aus den Fachkreisen zum Urteil. Lediglich das beim BGH unterlegene Universitätsklinikum Essen habe am selben Tag nach der Urteilsverkündung eine Stellungnahme veröffentlichte.

Darin heißt es, die betroffenen Fälle lägen fast 10 Jahre zurück. Zwischenzeitlich hätte sich die Aufklärungspraxis der Risiken der Lebendspende für die Organspender aufgrund neuerer medizinischer Erkenntnisse insgesamt verändert. Letztlich handele es sich bei der Entscheidung des Bundesgerichtshofes trotz der grundsätzlichen rechtlichen Bedeutung, um eine abgeschlossene Einzelfallbetrachtung.

„Die Aufklärungspraxis hat sich an vielen Kliniken tatsächlich verändert. Nach Auffassung der IGN e. V. aber immer noch nicht ausreichend. Und auch nur, weil die IGN e. V. die ungenügende Aufklärungspraxis seit 2011 öffentlich thematisiert hat“, so die IGN. Dafür sei sie oft angefeindet worden. Studien, die auf Risiken nach Nierenlebendspende hingewiesen haben, seien schon vor über 20 Jahren veröffentlicht worden.

Tatsächlich handelt es sich im medizinischen Sinne nicht um „Einzelfälle“, wie die durch die IGN e. V. veröffentlichten Studien und persönlichen Erfahrungen zeigen. „Bundesweit sind zahlreiche weitere Fälle vorinstanzlich gerichtlich über Vergleichsregelungen am Blick der Öffentlichkeit vorbei abgeschlossen wurden“, erklärte der Verein.

„Nierenlebendspender, die in der Vergangenheit unvollständig aufgeklärt wurden, haben nun im Rahmen der gesetzlichen Verjährungsfristen vor Gericht gute Chancen für die rechtswidrige Nierenentnahme einen finanziellen Ausgleich zu erstreiten, auch wenn dies in vielen Fällen kaum die erlittenen Schmerzen und Schäden aufwiegen wird“, so das Fazit der Interessengemeinschaft Nierenlebendspende.

Ergänzende Informationen

Urteil des VI. Zivilsenats Bundesgerichtshof vom 29.1.2019 – VI ZR 318/17
10 Seiten, PDF-Format

Interessengemeinschaft Nierenlebendspende e. V.

Krank durch Organspende – Klage gegen Uni-Klinikum Essen
Jan Jessen
Ralf Zietz spendete seiner Frau eine Niere. Jetzt hat er viele Beschwerden. Er klagt gegen seine Ärzte. Mediziner sind alarmiert.
Westfälische Rundschau 28.01.2019

Nierenlebendspenden: BGH entscheidet am 29.01.2019 zur mangelhaften Aufklärung
Persönliche Stellungnahme von Ralf Zietz, 1. Vorsitzender der Interessengemeinschaft Nierenlebendspende e. V.
PRESSEMITTEILUNG Interessengemeinschaft Nierenlebendspende e.V. vom 23.01.19

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